Der Keller hinter dem Hof

 

Dies ereignete sich wirklich am 24. Juni 1989. In einem typischen, alten Plattenbauviertel einer russischen Großstadt während der Perestroika-Zeit.

 

Sie waren zu viert. Der knapp achtjährige Vadim, sein guter Freund Dennis vom fünften Stockwerk aus dem Nachbareingang und zwei weitere Jungen, Griga und Anton, die Vadim kaum bekannt waren, trotzdem ebenfalls zu seinen Freunden zählten.

Wie so oft an einem Mittsommermorgen in Tscheljabinsk war es recht kühl. Eine nasse Frische nach den Regenfällen in der eben vergangenen Nacht. Schlammige Pfützen in den Unebenheiten des Hofs zwischen zwei parallelen fünfstöckigen Wohnblöcken – Chruschtschowkas genannt, weil ihr Bau noch Ende der Fünfzigerjahre auf Geheiß Nikita Chruschtschows begonnen hatte. Tau auf den verblassten Grasarealen, die, tagtäglich zertrampelt von Aberhunderten Füßen, kaum Insekten enthielten. Das Zusammenfließen aller Farben zu einem Allerweltsgrau, welches jedoch nicht traurig stimmte, eher tief entspannte nach dem Trubel lebhafterer Zeiten. All diese Spuren des Wolkenbruchs verpassten dem rechteckigen Hof, der so lang war wie alle Trakte der jeweils sechs Eingänge in den Wohnblöcken zu beiden Seiten, vorübergehend ein anderes Gesicht. Wie eine unvorhergesehene Schicksalswendung ein verändertes chiromantisches Bild einer Handfläche.

Doch schon innerhalb einer Pause zwischen zwei Vorbeiflügen von Überschallflitzern würden die Tautropfen wieder unter Sonnenstrahlen zu glitzern anfangen, der Schlamm in den Pfützen würde teilweise absinken, das Gras ergrünen und die Kronen der mächtigen Hofpappeln würden durchdrungen von den Wogen neuen Windes nach der völligen Ruhe … Und die Flugzeuge von der nur fünf Kilometer entfernten Militärbasis „Schagol“ außerhalb des Stadtteils verkehrten, muss man dazu sagen, alles andere als selten, manchmal im Stundentakt.

Nichtsdestotrotz, dass die Farben allmählich zurückkehrten, sah der Hof noch verlassen aus. Wie ein verschlafenes Dorf irgendwo in Westdeutschland, wo es generell umzäunte Spielplätze, aber solche Höfe eigentlich nicht gab und simultan pickende Gänse das Gras mit einem idyllischen Rascheln verschroteten, nicht Menschenfüße. Die erwachsene Arbeiterschaft war jetzt schon in der Arbeit. Die Kinder, die gerade Sommerferien hatten, konnten nach Belieben weiterschlafen. Erst zum Abend hin würden die Spielplätze sich immer mehr füllen, wenn es die meisten Leute aus ihren Wohnungen nach draußen, zur Geselligkeit zog.

Nur vier Kinder waren an diesem Morgen so ehrgeizig und wollten keine Zeit verlieren.

Auf ihrem Programm stand zuerst eine Katzenjagd, die nicht von Erfolg gekrönt war. Doch das musste sie auch nicht, wenn es um Spaß und puren Zeitvertreib ging. Die Katze entwischte ihnen behände durch ein gerade genug großes, offenes Kellerfenster im Wohnblock gegenüber der Wohnung von Vadims Großeltern, bei denen nämlich er den Sommer verbrachte. Genau genommen befand sich dieser Keller bereits im Nachbarhof, weil die Plattenbauten sich blitzförmig fortsetzten und immer zwei Wohnblöcke in Reihe verschoben miteinander verbunden waren.

Natürlich gingen die Jungs in den Keller, um die nunmehr sich schwerer gestaltende Jagd trotzdem fortzusetzen. Man gelangte in ihn nicht durch ein Treppenhaus, sondern direkt vom Hof aus. Eine steinerne Treppe aus vielleicht einem halben Dutzend Stufen führte zur Kellertür hinunter. Sie war von einem auf rostigen Eisenstäben ruhenden Dach aus Wellblech oder auch Schiefer bedeckt.

Gott weiß, wofür diese Keller der alten Chruschtschowkas gut waren. Die Plattenbaubewohner bewahrten in ihnen nichts auf. Zumindest nichts, was noch einen Nutzen bringen könnte. Weder Lebensmittelvorräte noch Möbelstücke, sogar keine Makulatur. Die Keller waren auch nicht nach der Wohnungszugehörigkeit getrennt. Und abgesehen von einzelnen, die als kleine Freizeitklubs für Pioniere und Komsomolzen oder einfach Jugendliche eingerichtet worden waren, haftete ihnen allgemein ein schlechter Ruf an. Verbote gab es nicht, doch man beeindruckte die Kinder mit Geschichten von bösen Onkeln, besonders schlimmen Trunkenbolden, die darin hausten, damit sie die Keller mieden. Da unten war ein passender Ort für asoziale Elemente.

Aber die vier unerschrockenen Entdecker ging das an ihren Shorts vorbei. In der Gruppe fiel die Angst von jedem Einzelnen wie der für den Juni typische Pappelflaum mit der Zeit von der Kleidung ab.

Sie stiegen also die kurze Treppe hinab und zogen an der schweren Holztür. Schon in der Schattigkeit unter dem Welldach stand eine modrige Luft, vermischt mit dem nassen Geruch der Gräser und Breitwegerichblätter ringsum, die nun auf der Augenhöhe unter dem Einfall des Sonnenlichts ein leuchtendes Grün annahmen. Von drinnen schlug ihnen erst recht die Feuchtigkeit entgegen. Und undurchdringliche Finsternis.

Sie ließen die Tür halb offen, in die sie mit ihren spindeldürren Körpern quasi alle vier hineinpassten, und blieben gefühlsmäßig an der Schwelle einer anderen, immer zugänglichen Welt stehen, die Seite an Seite mit ihrer viel helleren und lauteren Welt existierte und doch weit weg zu sein schien. Irgendwie empfand Vadim sofort, dass dieser Keller anders war als alle bisherigen, in denen er mit Freunden vor allem beim Versteckspiel sich aufgehalten hatte. 

Er war … gefährlich.

(...)


Zwei Drittel

 

So zu tun, als ob (oder „pretenden“) ist in.

Kinderärzte pretenden mit dringendem Operationsbedarf, Kfz-Werkstätten pretenden mit dringendem Bremsscheibenwechsel, Kinder sind wohl nicht anders als Autos, aber Autos pretenden nicht, Kinder pretenden mit Auas, wobei Jungen mit Auas und Autos pretenden, Männer pretenden mit Kindern, Frauen pretenden mit dem Verliebtsein, so unerwidertem, wie wenn man in den Mond verliebt ist, mit dem irdische Astronauten pretenden, manche Chefs pretenden, indem sie sich vor der Unterschrift des Arbeitsvertrags drücken und wochenlang auf Probe arbeiten lassen, weil sie in Wirklichkeit Analphabeten sind und deshalb nicht unterschreiben können …

 Ich pretende mit meinem Leben, und ich glaube, irgendetwas sehr Großes, das Universum, pretendet mit mir, sich selbst gegenüber.

Ich sitze auf den Lendenwirbeln, tränke das siamkatzenfarbene Sofa mit meinem Schweiß, der nach Mykoplasma riecht, und der Tag bringt sich noch vor Mitternacht um. Ich esse grüne Champignons und weiße Brokkoli und lasse mich nicht belohnen für die Umstellung auf gesunde Ernährung.

Das Zimmer ist eine zwölf Quadratmeter große Enklave des Ichseins, doch hier lebten mal ich und sie wie Licht und Dunkel. Bilderlosigkeit ziert die terrakottafarben gestrichenen Wände, und die einzige Tür hat irreparable Schäden an den rostigen Angeln wie Kiefergelenke an den Knorpelscheiben. Richtungsfalsche Streichschlieren an den Wänden kennzeichnen die Wege von Karawanen in der Wüste. Dort fehlt jetzt an allen Ecken und Kanten der Wind seit dem letzten Sandsturm, seit die Tür so stark und schnell gegähnt hat, dass der Putz gerieselt ist. Jetzt schweigt sie.

Der Fernseher saugt mein Selbstbewusstsein aus, lässt mich zu einem Bewusstsein ohne das Selbst schrumpfen. Ich sehe Kriegstreiber, die mit der Veränderung pretenden, und höre Vorbilder, deren Karrieren in Butter baden gehen. Die Fernbedienung hat massive Gebrauchsspuren wie das älteste Handy der Welt und zerstückelt sich langsam wie ein Bleistiftstummel in Richtung der Holzfasern. Ich möchte das älteste Handy der Welt sein, um nie mehr pretenden zu müssen.

Es sind noch Krokusse und Kaktusse im Zimmer, aber ich verstehe nur Mischsprachen, bin nicht ihr Zuhörer. Ich kuschele mit dem Sofa, das mit zwei blauen Augen auf der Kopfseite - oder Fußseite - pretendet. Es geht mir ein bisschen besser.

 Wir waren jung, wollten das Abitur schaffen und den Nachhauseweg von einer Geburtstagsparty mit Torte und Suff. Die Sommer badeten uns nacheinander in Flut, Glut und Blut, so sprangen wir vom warmen Wasser der Frühlinge ins kalte Wasser der Herbste und die Milch der Winter, um am Ende als Wir neugeboren zu werden.

Wir gingen shoppen, hatten uns Babysöckchen angesehen, um sie auch später nicht zu kaufen, und waren fremde Unsichtbare in jener Stadt, nur die Turmuhren mieden den Blickkontakt mit uns. Ich träumte davon, einer von den Menschen zu sein, die in einer Nachtschicht ameisenemsig schwere, dunkelbeige Pakete aufs Fließband hieven und in der einzigen Pause eine Zigarette vernichten, schweigend, den Blickkontakt mit der Uhr meidend. Aber ich habe nur gelernt zu lernen, auch nach der Abitortur. Sie war größer als ich, konnte die Lippen zu einem Fischmund schürzen, fand Pickel auf Männerrücken so akzeptabel wie Karosseriekratzer, und sie lernte Abschied für Abschied, mich kennenzulernen.

Wir schafften es einzeln und zusammen bloß bis zu zwei Dritteln.

 

Unsere Stadt erwacht mit dem produktiven Wochenendkater eines Morgenmuffels. Bunte, gesunde Vögel und immer verletzte Tauben bevölkern Zwischenräume und Nischen. Menschen, Stadtmänner und Stadtfrauen, die nie genug haben vom Unglücklich-sein, strömen auf halbwegs erholt aussehende Straßen. Einige wenige sickern nur hinaus, haben dabei Angst, gleich Tropfen aus einem undichten Wasserrohr in einem Plastikeimer für Zwiebeln oder Kartoffeln aufgefangen zu werden; sie wollen frei sein.

Wir sind noch jung, doch suchen eine Bank statt des letzten Kicks, wollen frei sein vom Glücklich-sein-Müssen.

Es ist hier zu nasskalt zum Sitzen, aber zu grau zum Spazieren, das leuchtende Volksfestkarussell der Liebe macht nicht mehr so schwindlig. Doch wir lieben diese schwingende Stadt, die uns familienfern wiedergeboren und freundelos auf die Beine verholfen hat. Sie bremst belächelungswürdige Vorwärtsbewegungen mit Parks und Parkplätzen ab, sammelt keinen Schnee, schweißt zusammen. Diese Stadt ist öfter kalt als trocken, hat orange-grüne Schneeräumtraktoren und ist relativ turmreich. Sie kann Mischsprachen verstehen und unserer beider sichtbar weite, von Weitem sichtbare Herkunft mit links verzeihen.

Hier sammle ich selbstständige Entscheidungen sowie überflüssige Gedichte, alle wahrscheinlich der Freundin gewidmet.

Hier jagt sie Geduldsfäden entlang belohnungsunwürdigen Zielen nach und begegnet der Torschusspanik am Ball bleibend.

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Der Meteorit und das Lied

 

Ich war 15 Jahre alt, als ich mit meinen Eltern aus Kirgisien nach Deutschland übersiedelte. Das war Anfang der Neunzigerjahre, noch bevor man uns, rechtzeitige Aussiedler, mithilfe der Vorsilbe „Spät-„ differenzierte. Wir könnten zur vierten Welle der Glücklichen zählen, die in einer unsicheren, turbulenten Zeit in der alten Heimat einen Neustart im paradiesischen Westen wagten, doch … Ja, was war denn passiert?, fragen Sie vielleicht. Ich weiß es bis heute nicht genau.

Ich kann mich nur erinnern, dass es auf einmal noch viel turbulenter wurde. Etwa zwischen Odessa, der Schwarzmeerküste von Rumänien und der Halbinsel Krim. Genau in diesem Dreieck.

Eine heidelbeerfarbene Wolke, so groß wie der ganze Himmel, hatte unser Flugzeug nach Hannover verschluckt. Es war in ihr gefangen wie in einem faradayschen Käfig, nur dass umgekehrt die Blitze nichts anderes zu tun hatten, als es scheinbar im Sekundentakt von allen Seiten zu piksen. Alles verdunkelte sich … um gleich wieder grell aufzuleuchten. Dies ging so eine Weile im Wechsel, als durchflöge das Flugzeug Felder eines dreidimensionalen Schachbretts. Bis ich eingeträumt war.

Als ich zu mir kam, rollten nicht mehr vierte, fünfte … neunte Wellen des von nun an wörtlich Schwarzen Meeres, sondern zogen schon Thüringens säuberlich geordnete, farbige Landschaften unter uns vorbei. Alle Passagiere samt meinen Eltern waren auf rätselhafte Weise von Bord verschwunden. Ich schien der einzige Überlebende zu sein. Abgesehen von den beiden traumatisierten Piloten, welche die Maschine nicht mehr wie im Traum, aber immerhin am Flughafen von Hannover landen konnten, ja, fast als wäre nichts gewesen …

So fing für mich das neue Leben in einem gänzlich fremden Land an. Als Vollwaise. Brutal auf mich allein gestellt. Wenn ich gefragt wurde, wo denn meine ganze Familie geblieben sei, sagte ich: „Die Blitze haben sie geholt.“ Meist verhörten sich die Leute und glaubten, die Spitzel hätten sie geholt. Überläufer- und Schmuggelgeschichten - immerhin galt Odessa traditionell als Zentrum des Schmuggels – bis hin zur Mafiazugehörigkeit wurden vor die Kulisse meiner Herkunft wie der neueste Vorhang gewoben.

Dennoch warf ich die Flinte nicht in den Doppelkorn und wehrte, rechtfertigte, mit einem Wort, biss mich durchs Leben. Oder durch diesen endlosen, undurchsichtigen, einen immer wieder einwickelnden Vorhang erst auf die Bühne des Lebens. Trotz meiner Schwächen in Deutsch wollte ich nach der Schule Journalist werden. Ich glaubte nämlich, dieser vielseitige Beruf könnte mir am besten helfen, Licht ins echte Dunkel meiner Einwanderungsumstände zu streuen.

Und da gab es noch diese Begabung … Nicht im Sinne der Eignung für einen Beruf, nein. Eine besondere Gabe. Vom Schicksal selbst, gewissermaßen als Beigabe zu meinem Überleben und dafür, dass es mir meine Eltern genommen hatte. Och, ich konnte mit ihr ein beliebiger Forscher werden. Einer, dem Patente nur so aus den Ohren oder sonst woraus schossen, wie Trümpfe aus dem Ärmel. Aber was, wenn ich nicht bei der Wissenschaft, sondern in der Wirtschaft auf den Geschmack käme? Mit 18 Multimillionär, quasi schon in Rente, dann der typische Abwärtstrend mit Suff, Koks, negativen Schlagzeilen … Das wäre gegen den natürlichen Lauf eines Menschenlebens. Nicht umsonst wird man erst gegen seine Lebensmitternacht – oder gar danach - mit Ehre und Ruhm oder hoffentlich wenigstens mit Ruhe beschenkt. 

Außerdem graute es mir davor, meine Möglichkeiten zu überreizen. Gott behüte, dass ich am Ende noch derjenige wäre, der die Entwicklung der Atombombe initiiert hatte, welche die Welt in verfluchter Spannung hält.

(...)